Gedanken, Gedenken
Zielstrebig erinnern, ungezielt vergessen. Samtweiche Gefühle in dem Moment der glücklichen Erinnerung, einzelne Momente des glücklichen Lebens, gibt es das? Sekunden der Gutmütigkeit in der Erinnerung und einzelne Sätze, die auf Papier standen, die dort weiter stehen, die die Erinnerung forcieren, sich dort schwarz auf weiß eingegraben haben. Gültige Sekunden, Splitter des Vergessens, nur nicht mehr wissen, unbedingt verschweigen, nicht näher rücken lassen, ausblenden. Heftiger Erinnerungsschwall wird wieder in die Schachtel verpackt. Ausweglos in die Gegenwart geworfen, der Vergangenheit entronnen, der Zeit entkommen. Erinnerungsgeschenk, verpackt, verschnürt, zugebunden, nicht herauslassen, drinnen stecken lassen, verschnürt, zugebunden, nicht herauslassen, drinnen stecken lassen, nur nicht öffnen, draußen nichts davon sehen lassen, bis ins Unterste verbergen. Stunden gemächlicher Innenreise, aber ohne Erinnerung, nur nichts aufkommen lassen, nicht hochkommen lassen, nur nicht auskotzen. Gesprächsweise Unterschlagungen begehen. Wissen verschweigen, Können verbergen, nicht zu sehen sein, sich nicht hören lassen, die Toten schweigen ohnehin, Ermordete schweigen noch stiller, laß die Erinnerung nicht durch die dünnen Riten dringen, Zeitgeist.
Wartestellung auf Durchbruchsversuche des Gedächtnisses, hochgekommene Zeiten, Schalen voll Erbrochenem, Ausgespucktem, Rübergerettetem. Ausgeschwiegen, herauskommen, deutlich werden, aber wo ist die Grenze? Die Erinnerung abschotten, das quillt dann aus allen Ohren wieder heraus, versickert wieder, macht keinen Effekt, bedeutet wenig. Unscheinbar, kleinkariert, Miniaturgeschichte, ausweglose Situation, merkwürdig, beobachtet, schnell erfasst, durchgegriffen, zu spät gekommen.
Tieflader ins Moor, die Vergrabenen, Verschütteten, viele Menschen, die bleiben da unten, da folgt nichts draus, die Geschichte geht weiter und doch gibt es einen Nerv der Vergangenheit, der durchstrahlt, der durchleuchtet, der die Gegenwart beschämt. Es gibt eine Zeit bis in die Gegenwart, da kehrt die Erinnerung ständig wieder, die verfolgt die Jetztzeit und blickt auf die Zukunft und erstreckt sich weiter und läßt sich nicht verdrängen und läßt sich nicht vergessen, Stachel vergangener Zeit.
(In: Du weckst die Nacht. Prosaminiaturen. Neuss 1994, S. 87f.)