Riesengeranien
Über sich sah sie riesige, riesig rote Geranien. Die rote Farbe tobte in riesiger Spießigkeit vor den winzigen Fenstern. Sie kniete sich auf die Erde und blickte zu den überwältigenden Blumen hoch, die weit entfernt waren von ihrem Zugriff. Der Geruch der Geranien, wenn sie als Kind auf dem Balkon in der Abenddämmerung die Pflanzen gießen durfte, war in diesen roten Pflanzen überdimensional vergrößert. Sie roch Geranien. Sie schlüpfte auf den Balkon als Kind und hatte die überdimensionale Gießkanne und roch Erde, feuchte Geranien. Rot. Nun waren die Geranien wieder so groß. Sie war beeindruckt davon, daß diese Blumen lebten und noch immer blühten, sie liebte sie für einen Moment, wünschte ein zartes Blatt zwischen die Finger zu nehmen und zu zerreiben, um wieder daran riechen zu können. Sie lag als ein in Kreuzbänder gewickeltes Kind unter den Geranien, eine winzige Puppe, sie wurde ein Korn, ein Wurm, diese Topfblumen waren das einzige. Sie war noch sprachlos, konnte noch nicht laufen. Da griff sie nach dem Balkongeländer hoch über ihr, verfehlte es, wurde groß, blickte hoch und rankte sich dann empor. Hände streckten sich ihr entgegen, riesige Augen blickten sie an, sie konnte laufen und machte sich davon. Sie ging dann immer wieder um den Block, wo sie Kreise zog, um Balkonblumen zu finden, die diesen einzigartigen Geranien entsprachen. Sie fand sie nicht, es waren diese vor dem engen Fenster, obwohl es tausende gab. Diese hatten die Erinnerung wachgerufen an Kindergerüche, Wohlbehagen, lauen Sommer, Friedlichkeit.
In der Zeitung las sie am nächsten Tag, daß überdimensionale Geranien, genau die, die sie gesehen hatte, über die Balkonbrüstung gestürzt waren und beinah eine Passantin erschlagen hätten.
(In: Du weckst die Nacht. Prosaminiaturen. Neuss 1994, S. 44)