Bertha von Suttner
Wegbereiter der Demokratie
Ein oder zwei Jahre vor dem Weltkrieg, als auf meinem kleinen Bücherbrett noch die Geschichten der Johanna Spyri und Frida Schanz in ihren fröhlich-bunten Einbänden standen, bekam ich von einer Freundin des Hauses dies ungewöhnliche Buch geschenkt: eine „Volksausgabe“, auf schlechtem Papier gedruckt, in rotem Umschlag, und auf der Titelseite die Worte „Die Waffen nieder, eine Lebensgeschichte von Bertha von Suttner“. Ich las es, zunächst verwundert, dann aber mit solcher Intensität, daß ich nun, beim Wiederlesen des Buches nach mehr als dreißig Jahren, mich jeder Begebenheit, ja ganzer Sätze deutlich erinnere. Ach, möchten doch alle wesentliche Bücher in recht jungen Jahren gelesen werden, wo der Boden des unverbrauchten Herzens zur Aussaat so bereit und empfänglich ist wie in späterem Alter nie wieder.
Wir Kinder von damals waren aufgewachsen in der Sphäre bürgerlicher Sicherheit, die sich von keiner Seite bedroht fühlte. Politik mochte den Erwachsenen wohl als Gesprächsstoff diesen, aber das Leben der Einzelnen berührte sie in keiner Weise. Und Kriege, je nun Kriege, von denen lernte und hörte man in der Geschichtsstunde, und war fast ein wenig traurig, in eine so ganz unheldische und ereignislose Zeit hineingeboren zu sein. Was in diesen Vorkriegsjahren unterirdisch brodelte und sich vorbereitete, drang kaum in unser Bewußtsein.
Und nun war plötzlich ein Buch da, das riß heraus aus bequemer Sorglosigkeit, das rührte an Dinge, die im eigenen Bereich bisher kaum benannt waren. Alles bekam durch dieses Buch gleichsam ein anderes Gesicht, eine neue Wahrheit. Die es aber geschrieben hatte, Bertha von Suttner, die in diesen dreihundert Seiten ihre eigene Lebensgeschichte erzählte, die stammte selbst aus den Kreisen der sorglosen Wohlhabenheit und hatte doch alles hinter sich gelassen, was eine behagliche Lebensform verbürgte. denn nur dem einen leidenschaftlichen Aufruf sollte ihr Leben dienen: Die Waffen nieder!
Bertha von Suttner hat eine ganze Anzahl Romane geschrieben, gewandt und voll Lebenserfahrung, wenn auch ohne letzte künstlerische Reife. In dem Werk, das ihren Ruhm begründete, aber auch einen Sturm der Meinungen entfesselte, dem in allen Kultursprachen übersetzten Roman „Die Waffen nieder“ verzichtet sie auf jeden künstlerischen Anspruch, um nur den einen Grundgedanken in erbarmungsloser Folgerichtigkeit herauszuarbeiten. Ihr Buch ist in jeder Zeile Bekenntnis, und auf den Vorwurf des „Tendenziösen“ antwortet sie selbst im Roman: „Verstimmt wird man nur durch eine durchschaute Absicht, die der Urheber schlau zu verbergen meint. Die meinige aber liegt unverhohlen zu Tage – ist sie auch mit drei Worten schon auf dem Titelblatt verkündet.“
Auch „Die Waffen nieder“ ist, wie Tolstois große Dichtung, ein Buch vom „Krieg und Frieden“. Die Kriege von 1859, 1864, 1866 und 1870 bilden den Hintergrund der vier Hauptkapitel, hinein schieben sich die Abschnitte der kurzen dazwischen liegenden Friedensepochen. Bertha von Suttner, geborene Gräfin Kinsky, entstammte altem österreichischem Adel – den Rahmen des Buches gibt denn auch das alte kaiserliche Österreich mit seinen Hofbällen und Redouten, seinen alten Generalen, jungen Leutnants und verwöhnten Komtessen, seinen schönen Adelspalästen und behaglichen Landsitzen. In dieser Umgebung wächst die junge Generalstochter Martha von Althaus heran. Siebzehnjährig verliebt sie sich in einen schönen Hursarenleutnant, sie heiraten, ein Söhnchen wird geboren und auf die Frage, was der Kleine dereinst werden soll, gibt es nur eine Antwort: Soldat! Der Krieg gegen Italien, 1859, nimmt ihr den heißgeliebten Mann. Noch lebt sie in den militärischen Anschauungen ihres Gesellschaftskreises, doch leise steigen die ersten ahnenden Zweifel auf: „müssen denn Tausende bluten, nur weil zwei Kabinette sich nicht einigen können?“ – und die Worte Krieg, Ruhm und Schlachtfeld bekommen einen drohenden Klang.
Nach einigen Jahren heiratet die umschwärmte junge Witwe den preußischen Baron Friedrich von Tilling. Gemeinsame Interessen haben die Gatten zueinander geführt, in ihren gemeinsam reift die Erkenntnis von der Furchtbarkeit der Kriege und der Entschluss, der Idee einer Völkerverständigung ihr Leben zu widmen. Dennoch muß der preußische Offizier von Tilling an den Feldzügen von 1864 und 1866 teilnehmen, durch alles Grauen muß er hindurch, wie durch ein Wunder kehrt er beide Male heim. Auch Martha von Tilling findet nun am Charpierzupfen kein Genüge mehr. Als sie hört, daß eine Kiste mit Verbandszeug zum Kriegsschauplatz gebracht werden soll, übernimmt sie, im leidenschaftlichen Wunsch zu helfen, selbst den Auftrag, der die Kräfte der verwöhnten Gräfin nahezu übersteigt. Auf den Schlachtfeldern Böhmens entschleiert sich ihr das letzte mitleidslose Antlitz des Krieges, und immer bohrender wird ihre Frage: warum nicht dies eine „Die Waffen nieder“?
Nach beendetem Krieg erhält das heimatliche Schloß preußische Einquartierung, mit den eleganten fremden Offizieren wird gefeiert, Liebesbande knüpfen sich an – und schon grinst wieder das Gesicht des Krieges auf inmitten vermeintlichen Friedens. Die Cholera, schlimmste Folgen der Feldzüge, bricht aus. Im Zeitraum einer Woche sterben im Dorf über achtzig Personen, von den Bewohnern des Schlosses werden zehn dahingerafft, auch Martha von Tillings alter Vater, der einzige Bruder, ihre beiden Schwestern. Sie selbst, wie betäubt, verläßt mit Mann und Sohn die Heimat. Am Genfer See lassen sie sich nieder. warum in Genf? Weil dort gerade von edeln Patriziern das Rote Kreuz ins Leben gerufen war, und es von hier aus am ehesten möglich ist, alle Kräfte in den Dienst der Friedensarmee zu stellen. Fragen des Völkerrechts, die Geschichte der Friedensidee, die philosophischen und dichterischen Formulierungen des Weltfriedensgedankens rücken nun in den Vordergrund des Buches. Die Pariser Weltausstellung, auch sie Zeugnis des friedlichen Wettbewerbes der Völker, führt das Ehepaar nach Paris. Dort erleben sie 1870 die Schrecken der Belagerung – „es ist wie ein Rückfall in mittelalterliche Höllenfeuer – durchzuckte Geistesnacht.“ Das Ende ist in Sicht, ein Abschnitt friedlichen Aufbaus soll beginnen. Da – furchtbare Ironie des Schicksals – wird Friedrich von Tilling am 1. Februar 1871 infolge eines bei ihm gefundenen Briefes der Spionage verdächtigt, vor ein Patriotentribunal geschleppt und – standrechtlich erschossen.
Zu den letzten Seiten des Buches gibt Martha von Tilling schließlich nur noch den Namen her, es ist Bertha von Suttners eigener Rechenschaftsbericht über ihr Wirken für einen dauerhaften Völkerfrieden. Sie war die Begründerin der österreichischen Friedensgesellschaft, war in Verbindung mit den Führern von Friedensorganisationen in anderen Ländern, und nahm teil an allen offiziellen Friedenskongressen (1891 in Rom, 92 in Bern, 94 in Antwerpen, 97 in Hamburg). Der Friedenspalast im Haag war sichtbares Zeichen ihres Bemühens. Sie regt an, „internationale Schiedsgerichte“ einzusetzen, welche die Streitigkeiten der Völker schlichten, denn „der nächste Krieg, von welchem die Leute so gleichmütig reden, der wird, bei der Furchtbarkeit der gegenwärtig erreichten und noch immer steigenden Waffentechnik, nicht Gewinn für die einen und Verlust für die andern bedeuten, sondern Untergang für alle.“ Bertha von Suttners Einfluß ist die Stiftung des Friedensnobelpreises zu danken, mit dem sie selbst später ausgezeichnet wurde.
Im Juni 1914, wenige Tage bevor die Schüsse von Sarajewo fielen, stand eine kleine Notiz in den Zeitungen: Bertha von Suttner, die eifrige Vorkämpferin der Idee eines ewigen Völkerfriedens, war 71jährig gestorben. Das Schicksal war gnädig, indem es sie zu rechter Stunde hinwegnahm, denn der heilige Gedanke, für den sie so tapfer gestritten, wurde in den folgenden Jahren zum blassen Phantom, und in dem hinter uns liegenden Jahrzehnt in Deutschland zum Frevel. Das Buch „Die Waffen nieder“ war vergessen, sicherlich auch verboten. Heute, wissend geworden durch ein Meer von Blut und Tränen, dringt Bertha von Suttners Stimme mahnend wieder ans Ohr.
Anna Klapheck
In: Rheinische Post, 28. September 1946