Von dem heutigen Düsseldorf, das als eine der schönsten
Städte der Rheinlande gilt, weiß ich nichts zu sagen.
Es ist mir fremd. Fremd geworden wie ein Gesicht, dessen liebe
Züge man aus der Jugendzeit her genau im Gedächtnis
trägt, das man zeichnen könnte, wenn man das Talent
dazu besäße, in das man sich aber nicht mehr hineinfinden
kann, wenn man es nach Jahren wiedersieht, weil aus dem schlichten
Kindergesicht mit den einfachen Linien ein kompliziertes geworden
ist – das Gesicht einer vornehmen, eleganten Frau.
Ach, mein Düsseldorf, nein, du
bist es nicht mehr! Wenn ich jetzt auf meiner Fahrt nach der Eifel
in Düsseldorf Halt mache, um das Grab meines Vaters zu besuchen,
der draußen weit an der Golzheimer Heide seine letzte Ruhe
gefunden hat, dann fahre ich durch lauter Straßen, die ich
nicht kenne. Das sind lange, breite, wohlgepflegte Straßen,
und die elektrischen Bahnen rollen, und die Autos tuten, und die
Droschken beeilen sich; das ganze laute, hastige Treiben einer
Großstadt umfängt mich. Und ich stehe verwirrt, und
es wird mir so wehmütig: wo ist mein stilles, gemütliches,
altes Düsseldorf geblieben? Es lebt nur noch in meiner Erinnerung.
Und so bitte ich denn die, die mit
mir durch Düsseldorf wandern wollen, sich in die Jahre des
vorigen Jahrhunderts zurückzuversetzen, in denen noch die
alte Akademie, das frühere kurfürstliche Schloß
stand – unweit davon, wo jetzt die großartige Brücke
herüberführt nach Krefeld – und mit schwärzlichen
Augen hinab auf den Rhein blickte. Schön war sie nicht, die
alte Akademie, und ich bin gewiß, die neue am Hafen ist
auch ungleich zweckentsprechender, aber wenn man von der „Anderen
Seite“ herüber nach dem düsteren Gemäuer
blickte, dann machte sich das sehr malerisch, und es kroch einem
zugleich an angenehmer Schauer über den Rücken. Da oben
in jenem Saal, da – da ließ sich zuweilen die schöne
Jakobe von Baden sehen, die unschuldig Gemordete. Sie eilte im
weißen Nachtgewand mit fliegenden Haaren an den Fenstern
vorbei und suchte ihren Häschern zu entkommen. Der Wind vom
Rheine blies, er winselte und pfiff um die vorspringenden Simse
– das war der Jakobe Klageruf, der immer noch nicht schwieg!
–
Die Akademie brannte ab, als ich noch
ein kleines Mädchen war. W a n n weiß ich nicht genau;
ich weiß nur, dass ich die Masern hatte und starkes Fieber,
und meine gute Mutter deshalb die Nacht an meinem Bettchen saß.
Es mochte Mitternacht sein. Da ging ein Lärmen und Tuten,
ein Schreien und Laufen auf unserm sonst so stillen Schwanenmarkt
los, daß ich aus wirrem Schlummer aufschreckte. Halb war’s
Wirklichkeit, halb Fiebertraum – läuteten nicht alle
Glocken? Die eine dröhnend dumpf, die andere wimmernd hell:
„Bimbam, bim bam bum!“ – Rettet, helft! Das
alte Schloß brennt! Alle Bilder brennen! Alle Häuser
rundum brennen! Ganz Düsseldorf steht in Flammen!
Meine Mutter hatte die Läden
zurückgestoßen und das Fenster geöffnet –
unser Zimmer lag zu ebener Erde – sie beugte sich weit heraus.
„Mutter, Mutter, brennen wir
auch ab?!“ Oh weh, wie sollte ich wohl so geschwind weglaufen
können, ich war doch krank! Meine Stirn glühte, und
doch klapperten mir die Zähne, der Angstschweiß brach
mir aus, wirre Gedanken jagten durch meinen schmerzenden Kopf.
„Mutter, Mutter!“ – Da legte meine Mutter ihre
kühle Hand auf meine Stirn: „Schlaf, mein Kind, schlaf!
Was sprichst du denn von brennen?! Draußen sind Angetrunkene,
die machen Lärm auf dem Schwanenmarkt!“
Aber am Morgen war’s doch wahr,
am Rhein ragten ausgebrannte Mauern traurig in den noch von Qualm
umdüsterten Himmel – das alte Schloß war nicht
mehr.
Noch eine Weile standen seine Trümmer.
Wir sahen sie, wenn wir zum Zolltor hinausspazierten, am Rhein
entlang auf holperigem Pflaster, um zu den Äpfeln zu gelangen,
die zur Herbstzeit gerade da aus den Kähnen geladen wurden
und in Körben, wohlgeordnet in Reih und Glied, verlockend
leuchteten. Ich habe nie mehr in meinem Leben solch schöne
Äpfel gesehen, auch nicht in Bozen und Meran, dem gepriesenen
Obstland. Es gab Reinetten, riesengroße-glattgrüne,
und solche mit feinen Pünktchen; die Rabauen waren zwar grau
nur und unscheinbar von außen, aber innen, ach, so aromatisch
und mürb. Und da waren die lieben Borsdorferchen, die es
jetzt gar nicht mehr gibt; klein, gelb mit roten Bäckchen,
auf denen winzige Warzen saßen. Christkind! Christkind!
Hei, das waren ja die Weihnachtsäpfel! Auf der einen Seite
vergoldet, hängen sie am Christbaum, und wenn man das Schaumgold
abreibt und hineinbeißt, dann weiß man ganz genau,
wie Weihnachten riecht und schmeckt, dann ist man ganz voll von
dem Zauber dieses wundersamsten aller Feste, an dem das Christkind
in der Krippe liegt, und ich mit unserer katholischen Dienstmagd
bei stockfinsterer Nacht vor Morgengrauen in die Jesuitenkirche
tappte, um es mit heiligem Entzücken zu schauen. –
Das Kind hatte viele Feste im Düsseldorf
der Vergangenheit. Noch lebt das Martinsfest, aber ich glaube
kaum, daß es die Kinderherzen jetzt noch so begeistert wie
dazumal. Die elegante Stadt hüllt sich nicht mehr in den
Schmalzduft der Puffertkuchen, den ich noch immer rieche, wenn
ich an Bolker- und Flingerstraße denke, an all die Gassen
der Altstadt, in denen sich das Treiben des Martinsabends am konzentriertesten
abspielte.
Da zogen wir um den Jan Willem auf
dem Markt, und der alte Herr, auf dessen Allongeperücke immer
so unendlich viele Spatzen saßen, sah ganz wunderlich-vergnügt
drein beim Martinslämpchenschein. Sein mächtiger Gaul
mit dem langen Schwanz hob die Hufe, als wollte er gleich mitstampfen:
Lustig, lustig, trallerallalla!
Das helle Schirpen der Kinderstimmen
war damals die einzige Musik, schrill und dünn klang es durch
die Novembernacht, aber so fröhlich, so selig wie erster
Lerchenwirbel im Frühlingsfeld; man kannte es damals noch
nicht, von Musikchören begleitet zu werden. Den ausgehöhlten
Kürbis, in dem ein dünnes Kerzchen brannte, hoch auf
dem Stecken oder wie ein Körbchen, an dünnen Schnüren
schaukelnd, in der Hand, so zog man aus. „Hier wohnt ein
reicher Mann – Der uns wohl was geben kann!“ Es gab
damals nicht so viel reiche Leute in Düsseldorf wie jetzt
– mit dem Werden zur Industriestadt ist der Reichtum gewachsen
- aber reich genug waren viele, um die vor der Tür singenden
Kindertrüppchen zu beschenken: Puffertkuchen, Spekulatius,
Printen, Äpfel, Nüsse und Kastanien, allerlei Leckers,
das wir jetzt wohl kaum mehr als Leckerbissen erachten würden.
So oft ist vom Martinsabend berichtet
worden in Geschichten und Bildern, das Gewimmel der im Dunkel
leuchtenden Martinslichter hatte etwas Phantastisches, etwas Malerisches,
Knaus und Vautier, damals die Größen der Düsseldorfer
Genremalerei, hatten gewiß ihre Freude daran. Nun ist der
Kürbis, wie so manches andere, zu seinen Vätern versammelt.
Sterne, Monde, Sonnen, Lampions in allen möglichen Formen
und Ausgestaltungen, leuchtend in Farben; die Papierlaterne aus
dem Lande Japan hat den schlichten gelben und grünen Kürbis
verdrängt, der in manchem Gärtchen, an mancher Böschung
sorgsam gezogen wurde, von Kinderaugen ängstlich gehütet,
von kleinen Händen fleißig begossen, damit er so groß,
so dick wurde, dass man ihn dann kaum tragen konnte auf der Stange.
Im Rücken des Jan Willem auf dem Markt stand damals das Theater.
Kein schöner Bau; ihm kann selbst meine Erinnerung keine
verklärtere Gestalt anzaubern. Es war die reine Räuberhöhle,
so eng, so finster, so unheimlich die engen Gänge, höchst
feuergefährlich und miserabel ventiliert. Und doch, es war
dasselbe Theater, in dem Immermann mit feinfühlender Hand
Schätze der Dichtkunst enthüllte, und aus der Düsselstadt
eine Stätte zu schaffen suchte, von der aus nicht nur Gemälde
bis in alle Fernen gingen, sondern die auch geistig befruchtend
auf die ganze literarische Welt Deutschlands wirkte.
In dieser schmutzigen, verkommenen
Bude wirkte zu meiner Zeit freilich kein Immermann mehr, aber,
o was gäbe ich darum, könnte ich noch einmal klopfenden
Herzens zu jenem alten Musentempel pilgern, mit dem ganzen naiven
Entzücken des Kindes, das Käthchen von Heilbronn in
mich aufnehmen oder mit durstigem Ohr die göttlichen Klänge
des Fidelio trinken! Man machte keine schlechte Musik in der alten
Bude; das, was innen geboten wurde, stand mit dem Äußeren
des Theaters in keinem Vergleich. Was an der Aufmachung fehlte,
das ersetzten die Leistungen – oder war ich damals wirklich
so kritiklos, daß ich mich jetzt im modernen Theater mit
der raffinierten Ausstattung so sehr zurücksehne nach der
rumpligen Bude am Düsseldorfer Markt?!
Das alte Theater stand noch eine Weile,
als das schöne neue an der Alleestraße schon gebaut
war; es wurde noch Sonntags drinnen gespielt zu ermäßigten
Preisen. Dann verschwand es vom Erdboden. Ich weiß nicht,
ob noch viele sich seiner dankbar erinnern, ich tue es jedenfalls;
denn es hat mir selige Abende geschenkt, Abende, an denen meine
Wangen glühten, meine Augen leuchteten, und ein vielleicht
noch unbewusstes und doch schon drängendes Sehnen mein junges
Herz erhob zu jenen Höhen, auf denen die Kunst wandelt. –
Von Martinslampen, Äpfeln und
Theater ist’s nicht allzu weit zur Kasernenstraße,
noch kann ich den Weg ganz gut finden. Da wohnte gleich am Anfang
oder am Ende – je nachdem von welcher Seite man kommt –
der Konditor Neuhaus. Der backte so prachtvolle Cremeschnitten
– Gott, was waren die groß für einen Groschen!
Und dann seine Weckmänner zum Nikolaus! Darin war er Meister.
Ich weiß nicht, ob die jetzigen Weckmänner auch ein
so leckeres Zitronatmaul haben und solch süße Schokoladenknöpfe
bäuchlings herunter. Bei uns in der Luisenschule war’s
Sitte, den Klassenlehrer oder die Klassenlehrerin zu Nikola mit
einem Weckmann zu beglücken, und das Gaudium der Klasse war
groß, und wir fanden uns ungeheuer witzig, als wir für
unsere ältliche Mademoiselle dem Weckmann einen Zettel ins
Maul einbacken ließen: “Wer warten kann – kriegt
auch ’nen Mann!“
Ein Stückchen von Konditor Neuhaus
die Kasernenstraße hinauf fingen die grauen Mauern der alten
Kaserne an. Sie waren schon damals recht bröcklig, abgeplatzt,
mit Kreide beschmiert, von unnützen Händen mit allerlei
Fratzen verunziert. Und doch war es mir, als ich hörte: die
alte Kaserne wird abgerissen, als sei es jammerschade um dieses
Wahrzeichen von Düsseldorf. Ich freue mich, daß ich
es in der „Wacht am Rhein“ festgehalten habe.-
Wieviele hundert Male bin ich an dir
vorbeigegangen, du alte Kaserne! Auf meinem täglichen Schulweg.
Aus den Fenstern lümmelten sich die Drillichjacken und pfiffen
hübschen Mädchen nach. Auf dem großen Exerzierplatz,
der offen an der Straße lag, nur durch eine Eisenstange
abgegrenzt, ritten die Offiziere ihre jungen Pferde ein, und das
schnarrende Kommando des wutschnaubenden Unteroffiziers reizte
ebenso zum Zugucken wie das verzweifelte Beinwerfen der gedrillten
Rekruten.
Ich bin selber oft in der alten Kaserne gewesen; zu Friedenszeiten
freilich nur ein paar mal, als meine Schulgenossin, die Feldwebeltochter,
mich heimlich mitschleppte, aber desto öfter in jenem großen
Jahr, im Jahre Siebzig. Da lag die Kaserne voll von Verwundeten,
meine Mutter pflegte darin, und die kleine Klara ging oft durch
die Säle, half an schulfreien Nachmittagen den Nonnen den
Kaffee, die Butterbrote austeilen und legte auch manchesmal dem
todwunden Turko eine Traube zur Erquickung auf die Bettdecke.
O das waren glorreiche Zeiten für
Düsseldorf! Ich glaube, jede Stadt wird sich jener Tage besonders
rühmen – viel Begeisterung, viel Opferfreudigkeit –
aber mir ist es, als wäre damals durch die Straßen
und Sträßchen, durch Düsseldorfs Gassen und Gässchen
ein Geist gewandelt, der Reiche und Arme, Hohe und Niedrige so
zusammenführte, als sei da kein Abstand mehr. Ich sehe noch
den alten Schuster Einbrod, wie er meinem großen Bruder,
der mit in den Krieg mußte, die Feldstiefeln anmaß,
und wie er, der sonst so Demütige, allzeit ans Knien Gewöhnte,
sich plötzlich von den Knien erhob, seine gedrungene Proletariergestalt
zu dem schlanken Jüngling aufreckte, ihm die Hand auf den
Scheitel legte und ihn mit so feierlich-inniger Stimme segnete,
als sei der Ausziehende sein eigener Sohn. Meine Mutter stand
still dabei, dann gab sie dem Meister Einbrod die Hand und sagte:
„Ich danke Ihnen!“ und mir, die sonst so gern über
den kleinen krummen Schuster lachte, fiel es heute gar nicht ein,
auch nur ein bisschen zu lächeln.
Über die Schiffbrücke, die
vom Zolltore hinüberführte auf die „Andere Seite“
und immer dann gerade ausgefahren wurde, wenn man hinüber
wollte, marschierten am tauigen Frühmorgen die jungen Söhne
der Stadt nach dem kleinen Bahnhöfchen Oberkassel. Da wurden
sie verladen. Es gaben ihnen viele das Geleit: Herren und Damen,
Männer und Frauen; e i n e Familie war es, die da von ihren
Kindern Abschied nahm.
Wir hatten einen Rosenstrauch im Garten,
eine ganz gewöhnliche weiße, halbwilde Rose, aber der
Strauch blühte immer so reich, daß er wie beschüttet
stand mit lauter schlohweißen Blumen. Von diesen Rosen hatte
meine Mutter dem ausziehenden Sohn eine an den Helm gesteckt.
– „Der kommt nicht wieder“, flüsterte man
bang, „eine Totenrose!“ – Es schellten viele
bei uns an, nicht bloß die Nachbarn, nein, auch Leute, die
man gar nicht kannte, frugen treulich nach dem Herrn Ferdinand.
Wenn die kleine Klara auf der Steinstufe der Haustür saß
und ihre mühseligen Viermal’rum am Strumpfe strickte
oder Charpie zupfte, dann wurde oft gefragt: „Habt ihr Nachricht
von deinem großen Bruder, wie geht es ihm?“
„Janz jut“, sagte ich dann jedesmal. Weiter wusste
ich nichts. Ich war zu jung, um den Ernst jener Tage zu begreifen.
Es machte mir Spaß, dass ich mir jetzt soviel allein überlassen
war, es machte mir noch mehr Spaß, in der Kaserne herumzuhuschen;
es grauste mich nicht vor all den Verwundeten, die da Bett an
Bett, Freund und Feind dicht nebeneinander lagen, und es grauste
mich auch nicht vor den Papptafeln, die auf meinem Weg zur Schule
vor manchem Haus im Winde Schaukeln sah: „Hier sind die
schwarzen Pocken.“ Meine Mutter ließ sich impfen,
ich wurde geimpft, alle Welt ließ sich impfen. Von der Größe
jener Zeit, von ihrer Angst und Not aber war keine Spur in meinem
Kinderherzen. Nur zwei Momente sind mir erinnerlich, deren Eindruck
ich heute noch fühle.
Die Schlacht von Spichern war geschlagen,
unsere Neununddreißiger waren mit dabei – mein Bruder!
Eine Karte kam von ihm, mit Bleistift gekritzelt: „Liebe
Mutter, ich bin gesund, aber viele von uns sind gefallen, Unteroffizier
Wiegmann auch.“ Und am selben Tag kam die Mutter jenes jungen
Wiegmann, eine in Düsseldorf berühmte Malerin, zu meiner
Mutter in die Kaserne. Sie stürmte herein, von Angst gepeitscht,
ihre schwarzen Haare flogen um das todblasse Gesicht. Ich stand
neben meiner Mutter, fasste unwillkürlich nach deren Kleid,
mir wurde ganz angst. Wie verwildert die Augen der Frau blickten!
„Sie haben Nachricht von Ihrem
Sohn, hörte ich – von meinem Sohn habe ich keine! Ich
habe keine! Wissen Sie, sagen Sie – oh, wissen Sie, lebt
mein Sohn?!“ – Ich fühlte meine Mutter erzittern,
ich zitterte auch. Es faßte mich das Leid jener Zeit an,
zum erstenmal. - -
Und dann kam der zweite September.
Vater und ich saßen ahnungslos beim Abendessen, die Mutter
war noch in der Kaserne, da erhob sich draußen auf dem Schwanenmarkt
ein Rufen, ein Durcheinanderschreien. Das war kein gewöhnlicher
Lärm. Neugierig wollte ich aufspringen, da riß auch
schon unsere Nachbarin, die Regierungsrätin, die zwei Söhne
im Feld hatte, die Tür auf; ihr Gesicht strahlte, und ganz
deutlich drang es jetzt von außen zu uns herein: „Sieg
– großer Sieg - Napoleon gefangen - Krieg aus!“
Bum – da fiel auch schon ein Kanonenschuß –
noch einer, noch einer! Und jetzt fingen alle Glocken an zu läuten,
die evangelischen und die katholischen. Und aus ihren Häusern
stürzten die Leute, sie lachten, sie weinten, sie fielen
einander in die Arme auf offener Straße: o Jubel, o Jubel,
nun war der Krieg gewiß bald aus!
Mein Vater eilte zur Mutter in die
Kaserne, ich blieb allein am dunkelnden Abend. Und ich setzte
mich auf meinen Stammsitz, die Haustürschwelle, da wollte
ich die Eltern erwarten. Der Lärm auf dem Schwanenmarkt war
jetzt verstummt, alles war in die innere Stadt gelaufen; es war
still unter den Lindenbäumen, noch sommerlich-warm, und in
den wilden Grasflächen unseres Platzes zirpten die Grillen.
Und dunkel war’s, nur an je einer Ecke des Vierecks brannte
eine Laterne. Ich war fast eingeschlafen, schon senkte sich mein
müder Kopf auf die Knie – da – plötzlich
ein Zischen, ein Knattern! Am schwärzlichen Nachthimmel fuhr
ein Stern in die Höh’, seinen langen bläulichen
Schweif schleppte er über die Dächer. Und nun noch so
einer, noch einer! Raketen – Freudenlichter, von den Bürgern
entzündet, Sterne des Jubels, so groß und leuchtend,
daß sie die kleinen Sternchen des Himmels beschämten.
Und jetzt aus der Hohen Straße, aus der Bilker Straße
heraus, vom Karlplatz her, ein Sausen, ein Brausen, ein Meer von
Stimmen, Hunderte, Tausende, aber sich einend zu gewaltigem Singen:
„Nun danket alle Gott!“
Ich saß still, wie geduckt,
und faltete meine Hände. Es rührte an die kleine Seele
des Kindes die große Stunde – da empfand ich mit Schaudern
auch das Glück jener Zeit. -
Als der Krieg zu Ende war, freilich nicht gleich nach Sedan, sondern
erst lange nachher, wurde manches anders in Düsseldorf. Es
wurde vieles gebessert auf Plätzen und Straßen, unser
Schwanenmarkt zum Beispiel bekam einen Springbrunnen in seine
Mitte, und das war mir damals das Interessanteste. Aber noch immer
stellte man abends die Eimer mit Kehricht und Küchenabfall,
die dann nächtlicherweile abgeholt wurden, draußen
vor die Haustür. Noch immer fluteten die Rinnsteine breit,
noch immer konnten wir ungestört Seilchen auf der Straße
springen, Stelzenlaufen und Doppschlagen, und noch stieg allfrühjährlich,
wenn die Eisschollen auf dem Rhein schmolzen, das Grundwasser
in unseren Keller.
Dieses Wasser im Keller ist eigentlich meine fröhlichste
Erinnerung an Düsseldorf. Wenn ich nachts aus meinem tiefen
Kinderschlaf aufwachte, geweckt durch dröhnende Kanonenschüsse
vom Rhein her, dann freute ich mich: aha, jetzt waren die Eisschollen,
die wir gestern noch fest wie vor Anker liegen sahen, ins Treiben
gekommen. Ha, wie der Westwind blies! Er drehte alle rostigen
Riegel, daß sie jammernd quietschten, er klapperte mit allen
Läden und drückte gegen die Mauern, daß man sein
Ungestüm bis mitten hinein in die Stube fühlte. Aber
er war dabei mild, warm-lösend, er brachte den Frühling
mit auf seinen Schwingen. Fort mit dem Eis, immer - runter den
Rhein – krach, gegen die Schiffbrücke an – schwupp,
jenseits ans flache Ufer, dass die Wiesen bald ganz unter Wasser
standen. Die „Andere Seite“ sah aus wie ein See; die
Schiffbrücke war ausgefahren, sie hätte dem treibenden
Eis nicht standgehalten, die Oberkasseler drüben waren ganz
von der Stadt abgeschnitten.
In einer solchen von splitternden
Eisschollen durchkrachten, von Kanonenschüssen durchdröhnten,
sehr dunklen Nacht war es, dass ein Brückenwärter, der
sich nicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatte, mit einem
losgestoßenen Ponton den Rhein hinabgetrieben wurde. Er
rief, er schrie; niemand konnte ihm zu Hilfe kommen, ein Nachen
wäre zerquetscht worden. Vom reißenden Wasser getrieben,
in wirbelnder Fahrt, entschwand er gen Holland. Ich glaube nicht,
daß ihm weiter große Unheil geschehen ist, aber jedenfalls
habe ich immer an ihn gedacht, als ich später in der Schule
das schöne Gedicht auswendig lernte: „Wir hatten musizieret
in der Frühlingsnacht, - Wir gingen über die Elbe, als
das Eis schon kracht.“ –
Meist aber waren die Eindrücke
der Düsseldorfer Wassersnot mir höchst erheiternde.
Die Leute, die unten am Zolltor wohnten, hatten ihr Parterre preisgegeben
und hockten in ihrem oberen Stockwerk. Da saßen sie nun
wie gefangene Vögel im Bauer der obersten Stange, und das
Futter musste ihnen von außen durch die Fenster zugereicht
werden. An langen Stöcken schwankten die Eimer mit Wasser,
schaukelten die Körbe mit Kartoffeln und Brot. Ein Nachen
kreuzte beständig in dem bedrohten Stadtteil. Bergerstraße,
Flingerstraße, Bolkerstraße, Hunsrück-, Ratinger-
und Mühlenstraße und wie sie alle heißen, alle
unter Wasser. Um den Jan Willem auf dem Markt spülten hochgehende
Wogen, und selbst bis zur Alleestraße hin schwuppte die
schwarze Tunke. Die Laternen, die man nicht mehr hatte ausdrehen
können, brannten flinzelnd in den Tag hinein; auf schwankenden
Laufbrettern stahl man sich von einem Haus zum anderen, die Straßenjungen
patschten barfuß mit aufgekrempelten Hosen, die feinen Herren
schlugen die Beinkleider um, und die Damen hoben die Röcke
so hoch, dass man ganz genau wußte, wer dünne und wer
dicke Waden hatte. Das Allerkomischste war mir aber, daß
mein Vater, mein ernster Vater, in einen Nachen steigen und sich
herunterfahren lassen mußte zur Regierung oben an der Mühlenstraße.
Bei uns am Schwanenmarkt kam die Magd
wie eine Nixe aus dem Keller herauf; ihre nassen Kleidersäume
tropften. Oh je, da konnte man nun nicht mehr herunter, selbst
die Kartoffeln, die doch am höchsten lagen, waren schon bespült,
das Sauerkraut schwamm bereits in seiner Ecke und hinten im Kohlenkeller
stand eine schwärzliche Brühe. Die Kellertreppe herauf
retteten sich die Ratten, die vom nahen Lopohl her leider immer
die Nachbarschaft besuchten; entsetzt aufschreiend schlug ich
einmal eine auf der Treppe tot. Aber es hielt uns weder das Ungeziefer,
noch die Gefahr, gründlich naß zu werden, davon ab,
in einer Waschbütte, mit zwei Holzscheiten rudernd, unten
im Keller Wasser zu fahren. Es war uns zwar streng verboten; höchstens
wurde uns gestattet, Nussschalen mit brennenden Wachslichtstückchen
schwimmen zu lassen und an die tiefen kleinen Gondeln, die von
der Treppe abstießen und bald wie märchenhafte Leuchten
im fernen Dunkel des Gewölbes glimmten, unsere helle Freude
zu haben.
Nun wird es wohl kein Wasser in den
Düsseldorfer Kellern mehr geben, und wie diese Freude meiner
Kindertage sind auch die Wiesen verschwunden, die sogenannten
Hammer Wiesen, auf denen das fette Vieh der Neußer Viehhändler
graste, auf denen wir den jungen Sauerampfer suchten, Butterblumen
und Wiesenschaum, und unter den Weidenbüschen am Rheinufer
die ersten duftenden Veilchen fanden. Ich bin im Frühjahr
fast an jedem schulfreien Nachmittag mit meinen Freundinnen dorthin
ausgezogen, jede von uns mit einem Körbchen und mit einem
Stecken bewaffnet, um dem neugiereigen Vieh, das oft zudringlich
wurde, eins aufs Maul zu geben.
Ich begreife es jetzt eigentlich nicht,
daß man mich damals so sorglos gehen ließ. Man könnte
das jetzt gar nicht mehr. Nicht nur, daß von den Wiesen
herzlich wenig übriggeblieben ist – ein kümmerlicher
Rest einer uns einstmals unbegrenzt erscheinenden üppig-grünen
Weite – es ist auch viel zu unsicher geworden um die große
Stadt herum. Fabriken über Fabriken. Schornsteine überpusten
den Umkreis mit schwarzem Staub, Arbeiter aus aller Herren Länder
kennen uns nicht, und wir kennen sie nicht.
Was wohl von den Spaziergängen noch übrig geblieben
sein mag, die ich damals mit meinem großen Bruder machte?
In den fetten Wiesen auf der „Anderen Seite“ haben
wir herrliche Sträuße gepflückt, dann im Wirtshaus
Makai gegessen und Schwarzbrot dazu; wir sind dann weiter gewandert
über einsame Wiesen, die nur ein Kuhmuhen belebte, der Knall
einer Hirtenpeitsche oder das Schnalzen eines Fisches in dem uns
begleitenden Strom, bis Heerdt und Neuß, und sind dann mit
einer Ponte übergefahren nach dem Kappes – und Spargeldorf
Hamm.
Man kam rascher hinaus ins Freie;
wo jetzt lange Häuserzeilen sich recken, standen damals lauter
Kohlköpfe. Das evangelische Krankenhaus lag in weiten Feldern
von Kartoffeln und wogendem Korn. Landschaftlich schön waren
die Felder ums alte Düsseldorf gewiß nicht, aber sie
waren voll des köstlichen Duftes der tragenden Erde, der
Fruchtbarkeit.
Viele, viele glückliche Wege sind wir gegangen, mein großer
Bruder und ich; er führte mich an der Hand wie sein Kind.
Im Ellerer Busch, am sumpfigen Wasserlauf pflückte er mir
Vergissmeinnicht, im Aaper Wald suchten wir Brombeeren und im
März schon den Waldmeister. In Grafenberg, wo noch keine
einzige Villa stand, nur ein paar ländliche Wirtshäuser,
saßen wir in der Schaukel; bis Gerresheim, Erkrath, Hochdahl
sogar führten uns unsere Ausflüge. Ich sah da jetzt
im Vorüberfahren mit der Eisenbahn einen Wald von Schloten
sich recken. Gott sei Dank, die gab’s zu meiner Kinderzeit
eigentlich erst im Bergischen Land. Gerresheim, Erkrath stille
Dörfer; bachdurchsickerte Wiesen, lauschige Buchenwälder,
aus denen das Reh äugte. Meine Mutter fuhr alle Jahre einmal
– es war im Frühjahr, wenn ich nicht irre – mit
einer Bekannten nach Elberfeld zum großen Inventurausverkauf.
So wurden die Kleidchen für mich, die Weihnachtsgeschenke
für die Dienstboten, mancherlei, was man im Jahr gebrauchte,
in Elberfeld gekauft; und Knöpfe, Litzen, Band, alles gleich
en gros. Als ich einmal mitgenommen wurde und von oben herab in
das enge düstere Tal von Elberfeld hinunterblickte, an dessen
Hängen die Häuser mit den schwarzen Schieferdächern
übereinander kletterten, und lange Reihen von ganz gleichen
Arbeiterwohnungen mich angähnten, da wurde mir ganz beklommen.
Der Himmel war grau, ein feiner Regen nässte – und
in unserem Düsseldorf hatte die Sonne doch so hell geschienen!
Mich dünkte, es sei ein Hexenkessel, in den ich hineingeworfen
werden sollte: enge Gassen, düstere Höfe, rauchende
Schlote. Und schwarze Gestalten im Flammenschein. Und ein Dunst,
ein Qualm, ein stickiger Brodem und ein Fluß, so schwarz
wie Tinte, von dem ich es nie, niemals glauben würde, dass
er ein Nebenfluß unseres hellgrünen Rheines sein sollte.
Die Leute eilten mit Regenschirmen und Gummischuhen; betrübt
senkte ich den Kopf und kniff die Augen zu: wäre ich doch
lieber daheim geblieben, hätte ich doch ruhig abgewartet,
bis der Korinthenstuten, den meine Mutter immer von Elberfeld
mitbrachte, und der sehr lecker war, zu mir kam!
Mich verlangte nach Hause, nach der
freundlichen, hellen, liebenswürdigen Stadt an der Düssel,
deren ich auch jetzt, nach so vielen Jahren, noch gedenke mit
einem Lächeln der Rührung, mit einem Nicken der Freude
darüber, daß sie meiner Kindheit einst Heimat war.
(abgedruckt
in: „Rheinische Erzähler“. Agenda des Hauses
Leonhard Tietz. Düsseldorf 1914, S. 27-34)
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