Ernst Weiß und Thomas Mann

Thomas Mann an Ernst Weiß zum Roman
„Der Verführer“

22.12.1937

Lieber Herr Ernst Weiß,

über den mannigfaltigen Ansprüchen, die der Tag mit sich bringt, bin ich immer erst nachts vor dem Einschlafen (es wurde manchmal recht spät dabei, gestern, beim Endspurt, halb 2 Uhr) dazu gekommen, Ihren Roman zu lesen. So hat es länger damit gedauert, als ich dachte; aber nun habe ich das reiche Werk auch wirklich aufgenommen und kann Ihnen, nachdem ich es erworben, um es zu besitzen, noch einmal in vollerem Sinne dafür danken als beim Empfang. Von einer Überraschung kann ich nicht sprechen, eigentlich, denn ich kannte Sie längst in Ihrer erzählerischen Eigenart und wußte im Wesentlichen, was ich zu erwarten und worauf ich mich zu freuen hatte. Aber „Der Verführer“ ist doch wieder eine so neue und merkwürdige Kundgebung und „Objektivation“ dieser Eigenart, daß man dennoch von Überraschung reden möchte, in dem Sinne einfach, wie das Gute und Originale immer wieder überrascht – aus dem wie-derum sehr einfachen Grunde, weil es selten ist, und man es mit so viel Durchschnittlichem und Uneigentlichem zu tun hat, daß man schließlich schon beinahe vergessen hat, wie das Gute und Merkwürdige aussieht. – Nun, so sieht es aus. Und was interessant ist, weiß man nun wieder. Interessantheit ist gewiß die erste und vielleicht einzige an einen Erzähler zu stellende Forderung, das Kriterium seines Talents, viel mehr als beim Lyriker oder Dramatiker. Denn wenn man einem zuhören soll, und zwar lange zuhören soll, so muß er eben interessant sein – eine freilich mysteriöse und kaum zu definierende Eigenschaft; aber dieses Geheimnis und das Undefinierbare haben Sie, und es macht Sie zu einem – soll ich sagen: großen? – aber was soll das Beiwort? -, es macht Sie ganz einfach zu einem Erzähler.

Das Buch gehört zu dem Allerinteressantesten, das mir in Jahren vorgekommen, und während ich las, blätterte ich öfter zurück zur Widmung und freute mich, daß es mir gehört. Das Interessante aber, an und für sich rätselhafte, kann auch wohl inhaltlich-sachlich eines rätselhaften Einschlages nicht entbehren - - man zerbricht sich den Kopf, man schüttelt ihn auch wohl, was ist das für ein Buch, was für ein Autor, was für ein Held, wie kommt der Autor zu diesem kühlen, kühnen, erfolgreichen Helden, wie weit ist er mit ihm identisch? Sehr weit offenbar, denn kühl, kühn und erfolgreich, innerlich erfolgreich ist auch der Erzähler, der hier erzählen läßt, aber auch wieder selbst erzählt, ein Leben, eine Jugend, die in dieser Form wohl kaum die seine ist, ein Wunsch- und Schmerzensleben, das er mit so viel Kühle, Kühnheit und Erfolg zu realisieren weiß, daß es seines ist, sein zweites Leben, seine zweite Jugend.
Der Erfolg, das Gelingen ist wirklich außerordentlich. Wie alles real gemacht ist, zur entschiedensten Autobiographie, zum eigentümlichsten Leben wird, ist erstaunlich. [...] das Duell, noch einmal ein Roman-Duell, aber eben kein Roman-Duell, sondern ganz neu und lebenseinmalig „so war es“. Es ist vorzüglich.
Man ist angefüllt mit Eindrücken, erregt und okkupiert von sonderbar existenten, aber unvergeßlich geprägten Bildern, Menschen und Geschehnissen. – Übrigens ist das Ganze sehr österreicherisch, wenigstens was einen gewissen Hauch von Gesellschaftlichkeit, Mondänität betrifft. Dabei diese Einsamkeit – bis zur Kälte. Sehr, sehr beschäftigend und ergreifend.

Seien Sie beglückwünscht und nehmen Sie weihnachtliche Grüße.
Ihr ergebener
Thomas Mann

 

 
Erarbeitung:
Babette Dufrenne