Die Schicksalsstunde im Gestapo Hauptquartier
- Cordelias Darstellung -

„Schweigend reichte ihr die Mutter einen Brief in Maschinenschrift auf Behördenpapier, eine Aufforderung, sich im Hauptquartier der Gestapo einzufinden. Sie betraf das Mädchen, aber die Mutter hatte bereits beschlossen, ihre Tochter zu begleiten - so weit, wie sie es vermochte.
Wie stets war das Mädchen sehr stolz auf die schöne, elegante Mutter, die an diesem Tag einen weißen Leinenmantel und eine große, schwarze Lacktasche trug. Das große, graue Haus, das Hauptquartier der Gestapo, und das hallende Stiefelgetrampel der SS-Männer, wenn sie die breiten Marmortreppen hinauf- und hinunterliefen, erschreckten sie jedoch, alles erinnerte allzusehr an die Höhle des Drachen. Mutter und Tochter suchten in den langen Korridoren ihren Weg bis zu dem Zimmer Nr. soundso. Doch kaum hatten sie das Zimmer betreten, schwand die Furcht des Mädchens dahin, der Beamte, der sie bestellt hatte, trug keine Uniform, es war ein kleiner, magerer Mann mit dünnem Schnurrbart und Brille. Höflich bot er der Mutter einen Stuhl an, das Mädchen jedoch musste stehen, während er erklärte, worum es ging. Ja, die Sache sei die, dass das Mädchen ja einen gültigen spanischen Paß nebst Einreisevisum habe, dagegen lasse sich von deutscher Seite nichts einwenden, er war nahe daran, „leider“ zu sagen, merkte aber, dass es überflüssig war. Doch nun sei es so, dass auch ein deutsches Ausreisevisum nötig sei, und ein Ausreisevisum werde es sicherlich nicht geben. „Wie ich sehe, tragen Sie keinen Judenstern“, sagte er zu dem Mädchen gewandt. Noch war es keine Anklage, nur eine Feststellung. Das Mädchen notierte mit großer Genugtuung, dass er die Anrede „Sie“ verwendet hatte; es war das erstemal, dass man sie siezte, offensichtlich galt sie also als erwachsen. Trotzdem war es die Mutter, die erklärte, man habe ihr auf der spanischen Botschaft versichert, dass das Mädchen als spanische Staatsbürgerin nicht unter die deutschen Rassengesetze falle und somit auch nicht gezwungen werden könne, den Judenstern zu tragen, insbesondere auch deshalb nicht, weil sie als Katholikin geboren sei. „Das mag ja sein“, erwiderte der Beamte langmütig, „aber“, und wieder wandte er sich direkt an das Mädchen, „wir haben hier ein Dokument ausgefertigt, das wir zu unterzeichnen bitten.“ Das Dokument entpuppte sich als eine im Namen des Mädchens ausgestellte Erklärung, dass sie die doppelte Staatsangehörigkeit akzeptiere, somit die deutsche neben der spanischen behalte, und sich ferner den deutschen Gesetzen einschließlich der Rassengesetze nebst Anwendung auf ihre Person freiwillig füge. Dies schließe das Tragen des Judensterns und einen eventuellen künftigen „Abtransport“ in den Osten ein.

Unsicher sah die Tochter die Mutter an, und ihr Blick traf auf eine weiße Maske, worin der allzu rote Mund wie eine Wunde glühte. Von der Mutter war im Augenblick keine Unterstützung zu erwarten, das wurde dem Mädchen sofort klar. Große Angst überkam sie, doch wie immer kam ihr der Trotz zu Hilfe. O nein, so leicht würde das nicht gehen, nein, nicht wieder den Judenstern, „Abtransport in den Osten“ klang zwar auch nicht gut, aber mit dem Judenstern hatte sie Erfahrung. Das Mädchen entschloß sich, „die kesse Berlinerin“ zu spielen, eine Rolle, die sie schon früher mit Erfolg kreiert hatte. „Ich bitte darum, meine Botschaft anrufen zu dürfen“, teilte sie dem Beamten mit und fand, es klinge erwachsen und beeindruckend, schließlich hatte er sie ja gesiezt. Hinter den Brillengläsern blitzte es auf, und der Schnurrbart zuckte wie von unterdrücktem Lachen: „Bitteschön, mein Fräulein, hier ist das Telefon!“ Entgegenkommend hob er ihr den Apparat hinüber, und sie hatte schon die Hand auf den Hörer gelegt, als er fortfuhr, und jetzt spie der Drache Feuer: „Aber“, und dies klang wie ein Peitschenhieb, „aber wenn sie nicht auf der Stelle unterzeichnen, dann müssen wir ihre Mutter belangen!“ Er erklärte dem Mädchen, die Mutter habe die spanische Adoption der Tochter arrangiert, um die deutschen Gesetze zu umgehen und sich ihnen zu entziehen, was als ernstes Vergehen betrachtet werden könne, als Landesverrat, Hochverrat und etwas Drittes, woran das Mädchen sich später nicht mehr erinnerte. Falls das Mädchen jedoch jetzt unterzeichne, sei ja noch kein Schaden geschehen, dann ließe sich bei dem Fehltritt der Mutter Nachsicht üben. „Und“, fügte er sicherheitshalber hinzu, „Sie sind sich ja wohl der Tatsache bewusst, dass Ihre Mutter Halbjüdin ist.“

Wieder sah das Mädchen die Mutter an und begegnete dem Blick der schönen, braunen Augen, Augen, die vor Intensität strahlen, das Mädchen verzaubern konnten, die aber randvoll waren von stummem, hilflosem Schmerz. Niemand sagte etwas, nichts brauchte gesagt zu werden, es gab keine Wahl, hatte nie eine gegeben, sie war Cordelia, die ihr Treuegelöbnis hielt, sie war auch Proserpina, sie war die Auserwählte, und nie hatte sie dem Herzen ihrer Mutter nähergestanden. Die Kehle schnürte sich ihr zu, aber schließlich brachte sie es heraus: „Ja, ich unterschreibe.“

Der Drache, jetzt satt und zufrieden, wurde wieder zu einem fast freundlichen Beamten und gab zum Abschied die Auskunft: „Und jetzt können Sie ins Zimmer gegenüber gehen und sich dort einen neuen Judenstern abholen, er kostet 50 Pfennig.“


(Cordelia Edvardson: „Gebranntes Kind sucht das Feuer“, Teil I, 21. Kap.)

Erarbeitung:
Susan Hiep
Ariane Neuhaus